Extremlauf: Der Franke
Michael Kilian läuft das Braveheart Battle mit einer Spezialprothese
Nach einem
tragisch-verrückten Verkehrsunfall im Jahr 2003 schwebte Michael Kilian in
Lebensgefahr und verlor seinen rechten Unterschenkel. Der 43-Jährige hat sich zurück ins Leben
gekämpft – und Anfang März beim Extremlauf Braveheart Battle im fränkischen
Münnerstadt teilgenommen. Eine Reportage.
Von Ibrahim Naber
Münnerstadt. Den 6. Juni
2003 wird Michael Kilian nie vergessen. Es ist der Tag des großen Unglücks.
Seines großen Unglücks. Als der damals 32-Jährige an jenem Morgen in seinen
Traktor steigt, kann er nicht ahnen, dass die folgende Fahrt sein Leben
verändern wird. Kilian ist wie unzählige Male zuvor in seinem 4300-Einwohner
Heimatort Güntersleben (Lkr.Würzburg) unterwegs, um Materialien für den
familiären Landwirtschaftsbetrieb abzuholen. Nach kurzer Fahrt parkt er seinen
Bulldog am Straßenrand. Kilian beginnt Maurerdielen auf seinen Anhänger zu
laden. Eine Alltagssituation. Unspektakulär und ungefährlich. Eigentlich. Doch
dann passiert das bis heute Unbegreifbare: Ein Auto knallt von hinten frontal
in den Anhänger rein. Kilian, der sich zwischen seinem Anhänger und dem Auto befindet,
hat keine Chance mehr zu reagieren. Er wird durch die Wucht des Aufpralls in die
Frontscheibe des Unfallverursachers geschleudert. Eine scharfe Eisenkante des
Anhängers trennt seinen rechten Unterschenkel dabei ab wie ein Messer die
weiche Butter.
Kilian erinnert sich:
„Ich lag so auf der Motorhaube des Autos, dass ich meine Beine gar nicht sehen
konnte. Ich schrie nur: ‚Hilfe! Mein Bein ist gebrochen! Das tut höllisch weh!
Hilfe!’“
Man mag es kaum
glauben: Der über 60-Jährige Unfallverursacher ist zum Zeitpunkt des Unglücks
selbst Prothesenträger. Auch er wohnt in Güntersleben, kennt Kilian und dessen
Familie persönlich. Er gehörte zuvor zur Weinkundschaft Kilians, seine Tochter
ging mit Kilians Bruder in dieselbe Schulklasse. Beim Unfall leistet der Senior
erste Hilfe, wählt dann die 112. Die örtliche Feuerwehr eilt herbei. Es sind
die Jungs von Kilians Einsatztruppe. Sie sehen, wie ihr Kamerad blutend daliegt
und schließlich von Notärzten behandelt wird. Kilian wird ins Krankenhaus
eingeliefert. Im Glauben, dass sein Bein lediglich gebrochen ist. Im Unwissen,
dass sein Leben in großer Gefahr ist.
Münnerstadt, Unterfranken, 3928 Tage später. Michael Kilian
steht im Startpulk der rund 2800 Läufer des Braveheart Battles 2014. Auch in
diesem Jahr eine kuriose Ansammlung von Männer und Frauen zwischen 17 und 66
Jahren. Einige Läufer sind verkleidet, tragen Schottenröcke oder schlichtweg
knappe Superman-Unterhosen. Auch ein paar Schlümpfe sind dabei. Kilian wirkt in
seinem neongelben Outfit tiefenentspannt. Kurz zuvor hat er mit seinen Laufbegleitern
Birgit und Alfred noch ein Glas Wein getrunken. „Schoppen“, wie Kilian sie
nennt. Jetzt macht er Späße mit anderen Läufern, lacht und strahlt wie die
Sonne am Himmel. Knapp 15 Grad hat es an diesem Morgen. So warm war es in den
letzten Jahren nie. Es ist Kilians dritte Teilnahme. Er weiß mittlerweile, auf
was er sich da einlässt. Weiß, dass er sich auf seine 8500 Euro teure Spezialprothese aus Aluminium und Carbon
verlassen kann, die sein rechtes Bein ziert. Plötzlich ein kollektives
Niederknien. Andächtige Stille. Organisator Joachim von Hippel, ein ehemaliger
Soldat, ruft mit dem Braveheart-Gebet die Grundtugenden des Laufes in
Erinnerung - Tapferkeit und Mut. Die Läufer strecken ihre Fäuste gen Himmel und
johlen. Dann ist es so weit. 28 Kilometer, 50 Hindernisse und mehr als 1000
Höhenmeter: Die Läuferhölle öffnet ihre Tore.
Dabei beginnt der Lauf vergleichsweise harmlos. Auf den
ersten Kilometern sind kleine Barrikaden und ein Waldanstieg zu erklimmen, die
ersten kleinen Gewässer zu durchwaten. Kilian und seine Begleiter walken die
gesamte Strecke in zügigen Schritten. Denn Joggen ist für Kilian nur noch sehr
eingeschränkt möglich. Bei Kilometer vier wartet das erste Highlight.
Vorsichtig wagt sich das Trio um Kilian in die vollkommene Dunkelheit unterhalb
einer Brücke. Künstliche Nebelschwaden machen die Sicht unmöglich. Langsam
tasten sich die drei weiter. Durchqueren gemeinsam den Bach, der auf einmal in
der Dunkelheit auftaucht. Bis schließlich wieder Sonnenstrahlen am Ende des
Tunnels erkennbar werden.
Als Kilian nach seinem
Umfall ins Krankenhaus eingeliefert
wird, ist ihm bereits vollkommen schwarz vor Augen. Er hat das Bewusstsein
bereits an der Unfallstelle verloren, wird auf der Intensivstation behandelt.
Von nun an befindet er sich im künstlichen Koma. Über zwei Liter Blut hat er an
der Unfallstelle verloren. Sein Leben steht auf dem Spiel. Es werden vor allem
für seine Familie zwei quälende Wochen der Ungewissheit und Sorge. Doch Kilian
kämpft sich zurück. Auch, weil er dank seiner ehemaligen Arbeit beim
Bundesgrenzschutz gut trainiert ist. Schließlich erwacht er aus dem Koma. Dann der große
Schock: „Als ich aufgemacht bin, habe ich sofort gemerkt, dass ich mein Bein
verloren habe. Das war einfach nur schlimm“, sagt Kilian. Es wird ein harter
Weg zurück ins Alltagsleben für ihn. Kur. Reha. Das volle Programm. Es steht
zunächst offen, ob er überhaupt jemals wieder laufen kann. Kilian: „In der
Anfangszeit nach dem Unfall bin ich schon richtig auf den Arsch gefallen. Ich
wusste: Das Rad dreht sich weiter, mit mir oder ohne mich. Ich habe gelernt,
dass man einfach nur Gas geben muss. Dann kann man wieder fit werden“. Er
schafft es. Zwei Jahre braucht der
Franke, um wieder Muskeln aufzubauen und „richtig auf den Dampfer zu kommen.“
Kilometer fünf beim Braveheart Battle. Über eine sechs Meter
hohe Strohwand kraxeln Kilian und seine Begleiter in die Altstadt von
Münnerstadt. Die einzige längere Teerpassage überhaupt. Es ist quasi ein
Heimspiel für Kilian. Jede 50 Meter ein neuer „Micheeeeeel“-Ruf der Zuschauer.
Sie kennen ihn fast alle. Von den Teilnahmen im letzten Jahr. Von den vielen
Weinproben, die der Hobby-Winzer in der Region regelmäßig organisiert. Und auch
durch seine Frau, die aus Münnerstadt kommt und beim Braveheart Battle seit
Jahren die Startnummern verteilt. Auch seine Töchter, Elen (16) und Klara (14),
feuern ihren Vater an und reichen ihm immer wieder Trinken und Energieriegel. Kilian
ist, wenn man so will, der heimliche Star des Laufes. Auch unter den Läufern.
„Respekt!“ ist das Wort, das ihm seine Mitstreiter an diesem Tag zigfach
anerkennend zurufen. Kilian genießt die Anerkennung sichtlich. Die Frohnatur
hört an diesem Tag gar nicht mehr auf zu strahlen.
Nach der Passage durch die Stadt ist die Aufwärmphase
endgültig vorbei. Zunächst warten mehrere metertiefe Matschgruben auf die
Läufer. Die Schlammlöcher sind so klitschig und nass, dass sie ohne Hilfe
anderer Läufer nicht zu bewältigen sind. Ein Umstand, der den Geist des
Braveheart Battles ausmacht. Ein Jeder hilft hier dem Anderen.
Kilian baut eine Räuberleiter mit seinen Händen,
wuchtet drei Läufer nacheinander aus den
Gruben heraus. Dann packt ihn ein anderer Läufer an seiner Prothese und schiebt
ihn den Matschhang hoch. Geschafft.
Im Anschluss geht es bergauf. Und wie. Serpentinenartig für
jeweils 400 Meter die Wälder hoch und runter. Es ist das L'Alpe d'Huez des
Braveheart-Battles. Kilian stapft hinter Hunderten anderen Läufern schnaufend
die Wälder hoch. Das haben sie zu dritt in den Wochen zuvor trainiert. Zuhause
in Güntersleben, die eigenen Weinberge hinauf.
„Auf geht’s Alfred, auf geht’s. Die Uhr tickt“, animiert
Kilian seinen Begleiter. Unter sechs Stunden wollen sie am Ende bleiben, das
ist das Ziel. Wenig später erreicht das Trio "Loch Ness", den
legendären Schlammsee, das Hindernis aller Hindernisse. 40 Meter durch das
eiskalte Wasser der Lauer, wo man unter Kanus durchtauchen muss. Von allen
Seiten Stöhnen, Prusten, Schreie des Leidens. Mit bibbernden Zähnen erreicht
Kilian das andere Ufer, wo zahlreiche Läufer bereits von Sanitätern behandelt
werden.
Der Akku ist bei den meisten Teilnehmern bereits im roten
Bereich, als das letzte große Kriechhindernis bevor steht. Gut 50 Meter müssen
robbend unter einem geladenen Elektrozaun zurückgelegt werden. Keiner hat es
dabei so schwer wie Kilian. Der Prothesenträger kann nicht auf dem Bauch
robben, muss sich seitwärts mit purer Muskelkraft den Rand entlangziehen.
Bergauf.
Über Feldwege und Wiesen wankt das Trio dem Ziel entgegen.
Der letzte Berg, "Killing Hill", mit 45 Grad Steigung, verlangt ihnen
noch einmal alles ab. Dann winkt endlich das Ziel. Auf der finalen Runde durchs
Stadion wird Kilian frenetisch empfangen. Der letzte Blick auf die Stoppuhr
verrät: 5 Stunden, 49 Minuten. Michael Kilian hat es wieder einmal geschafft.
Den Ritt durch die Hölle Münnerstadts. Das Unglück vom 6. Juni 2003 wieder ein
Stück weiter hinter sich zu lassen.