Samstag, 7. Juni 2014

Auf einem Bein durch die Hölle



Extremlauf: Der Franke Michael Kilian läuft das Braveheart Battle mit einer Spezialprothese



Nach einem tragisch-verrückten Verkehrsunfall im Jahr 2003 schwebte Michael Kilian in Lebensgefahr und verlor seinen rechten Unterschenkel.  Der 43-Jährige hat sich zurück ins Leben gekämpft – und Anfang März beim Extremlauf Braveheart Battle im fränkischen Münnerstadt teilgenommen. Eine Reportage. 

Von Ibrahim Naber

Münnerstadt. Den 6. Juni 2003 wird Michael Kilian nie vergessen. Es ist der Tag des großen Unglücks. Seines großen Unglücks. Als der damals 32-Jährige an jenem Morgen in seinen Traktor steigt, kann er nicht ahnen, dass die folgende Fahrt sein Leben verändern wird. Kilian ist wie unzählige Male zuvor in seinem 4300-Einwohner Heimatort Güntersleben (Lkr.Würzburg) unterwegs, um Materialien für den familiären Landwirtschaftsbetrieb abzuholen. Nach kurzer Fahrt parkt er seinen Bulldog am Straßenrand. Kilian beginnt Maurerdielen auf seinen Anhänger zu laden. Eine Alltagssituation. Unspektakulär und ungefährlich. Eigentlich. Doch dann passiert das bis heute Unbegreifbare: Ein Auto knallt von hinten frontal in den Anhänger rein. Kilian, der sich zwischen seinem Anhänger und dem Auto befindet, hat keine Chance mehr zu reagieren. Er wird durch die Wucht des Aufpralls in die Frontscheibe des Unfallverursachers geschleudert. Eine scharfe Eisenkante des Anhängers trennt seinen rechten Unterschenkel dabei ab wie ein Messer die weiche Butter.
Kilian erinnert sich: „Ich lag so auf der Motorhaube des Autos, dass ich meine Beine gar nicht sehen konnte. Ich schrie nur: ‚Hilfe! Mein Bein ist gebrochen! Das tut höllisch weh! Hilfe!’“

Man mag es kaum glauben: Der über 60-Jährige Unfallverursacher ist zum Zeitpunkt des Unglücks selbst Prothesenträger. Auch er wohnt in Güntersleben, kennt Kilian und dessen Familie persönlich. Er gehörte zuvor zur Weinkundschaft Kilians, seine Tochter ging mit Kilians Bruder in dieselbe Schulklasse. Beim Unfall leistet der Senior erste Hilfe, wählt dann die 112. Die örtliche Feuerwehr eilt herbei. Es sind die Jungs von Kilians Einsatztruppe. Sie sehen, wie ihr Kamerad blutend daliegt und schließlich von Notärzten behandelt wird. Kilian wird ins Krankenhaus eingeliefert. Im Glauben, dass sein Bein lediglich gebrochen ist. Im Unwissen, dass sein Leben in großer Gefahr ist.

Münnerstadt, Unterfranken, 3928 Tage später. Michael Kilian steht im Startpulk der rund 2800 Läufer des Braveheart Battles 2014. Auch in diesem Jahr eine kuriose Ansammlung von Männer und Frauen zwischen 17 und 66 Jahren. Einige Läufer sind verkleidet, tragen Schottenröcke oder schlichtweg knappe Superman-Unterhosen. Auch ein paar Schlümpfe sind dabei. Kilian wirkt in seinem neongelben Outfit tiefenentspannt. Kurz zuvor hat er mit seinen Laufbegleitern Birgit und Alfred noch ein Glas Wein getrunken. „Schoppen“, wie Kilian sie nennt. Jetzt macht er Späße mit anderen Läufern, lacht und strahlt wie die Sonne am Himmel. Knapp 15 Grad hat es an diesem Morgen. So warm war es in den letzten Jahren nie. Es ist Kilians dritte Teilnahme. Er weiß mittlerweile, auf was er sich da einlässt. Weiß, dass er sich auf seine 8500 Euro teure  Spezialprothese aus Aluminium und Carbon verlassen kann, die sein rechtes Bein ziert. Plötzlich ein kollektives Niederknien. Andächtige Stille. Organisator Joachim von Hippel, ein ehemaliger Soldat, ruft mit dem Braveheart-Gebet die Grundtugenden des Laufes in Erinnerung - Tapferkeit und Mut. Die Läufer strecken ihre Fäuste gen Himmel und johlen. Dann ist es so weit. 28 Kilometer, 50 Hindernisse und mehr als 1000 Höhenmeter: Die Läuferhölle öffnet ihre Tore. 



Dabei beginnt der Lauf vergleichsweise harmlos. Auf den ersten Kilometern sind kleine Barrikaden und ein Waldanstieg zu erklimmen, die ersten kleinen Gewässer zu durchwaten. Kilian und seine Begleiter walken die gesamte Strecke in zügigen Schritten. Denn Joggen ist für Kilian nur noch sehr eingeschränkt möglich. Bei Kilometer vier wartet das erste Highlight. Vorsichtig wagt sich das Trio um Kilian in die vollkommene Dunkelheit unterhalb einer Brücke. Künstliche Nebelschwaden machen die Sicht unmöglich. Langsam tasten sich die drei weiter. Durchqueren gemeinsam den Bach, der auf einmal in der Dunkelheit auftaucht. Bis schließlich wieder Sonnenstrahlen am Ende des Tunnels erkennbar werden.

Als Kilian nach seinem Umfall  ins Krankenhaus eingeliefert wird, ist ihm bereits vollkommen schwarz vor Augen. Er hat das Bewusstsein bereits an der Unfallstelle verloren, wird auf der Intensivstation behandelt. Von nun an befindet er sich im künstlichen Koma. Über zwei Liter Blut hat er an der Unfallstelle verloren. Sein Leben steht auf dem Spiel. Es werden vor allem für seine Familie zwei quälende Wochen der Ungewissheit und Sorge. Doch Kilian kämpft sich zurück. Auch, weil er dank seiner ehemaligen Arbeit beim Bundesgrenzschutz gut trainiert ist. Schließlich  erwacht er aus dem Koma. Dann der große Schock: „Als ich aufgemacht bin, habe ich sofort gemerkt, dass ich mein Bein verloren habe. Das war einfach nur schlimm“, sagt Kilian. Es wird ein harter Weg zurück ins Alltagsleben für ihn. Kur. Reha. Das volle Programm. Es steht zunächst offen, ob er überhaupt jemals wieder laufen kann. Kilian: „In der Anfangszeit nach dem Unfall bin ich schon richtig auf den Arsch gefallen. Ich wusste: Das Rad dreht sich weiter, mit mir oder ohne mich. Ich habe gelernt, dass man einfach nur Gas geben muss. Dann kann man wieder fit werden“. Er schafft es. Zwei Jahre braucht der Franke, um wieder Muskeln aufzubauen und „richtig auf den Dampfer zu kommen.“

Kilometer fünf beim Braveheart Battle. Über eine sechs Meter hohe Strohwand kraxeln Kilian und seine Begleiter in die Altstadt von Münnerstadt. Die einzige längere Teerpassage überhaupt. Es ist quasi ein Heimspiel für Kilian. Jede 50 Meter ein neuer „Micheeeeeel“-Ruf der Zuschauer. Sie kennen ihn fast alle. Von den Teilnahmen im letzten Jahr. Von den vielen Weinproben, die der Hobby-Winzer in der Region regelmäßig organisiert. Und auch durch seine Frau, die aus Münnerstadt kommt und beim Braveheart Battle seit Jahren die Startnummern verteilt. Auch seine Töchter, Elen (16) und Klara (14), feuern ihren Vater an und reichen ihm immer wieder Trinken und Energieriegel. Kilian ist, wenn man so will, der heimliche Star des Laufes. Auch unter den Läufern. „Respekt!“ ist das Wort, das ihm seine Mitstreiter an diesem Tag zigfach anerkennend zurufen. Kilian genießt die Anerkennung sichtlich. Die Frohnatur hört an diesem Tag gar nicht mehr auf zu strahlen.



Nach der Passage durch die Stadt ist die Aufwärmphase endgültig vorbei. Zunächst warten mehrere metertiefe Matschgruben auf die Läufer. Die Schlammlöcher sind so klitschig und nass, dass sie ohne Hilfe anderer Läufer nicht zu bewältigen sind. Ein Umstand, der den Geist des Braveheart Battles ausmacht. Ein Jeder hilft hier dem Anderen.
Kilian baut eine Räuberleiter mit seinen Händen, wuchtet  drei Läufer nacheinander aus den Gruben heraus. Dann packt ihn ein anderer Läufer an seiner Prothese und schiebt ihn den Matschhang hoch. Geschafft.
Im Anschluss geht es bergauf. Und wie. Serpentinenartig für jeweils 400 Meter die Wälder hoch und runter. Es ist das L'Alpe d'Huez des Braveheart-Battles. Kilian stapft hinter Hunderten anderen Läufern schnaufend die Wälder hoch. Das haben sie zu dritt in den Wochen zuvor trainiert. Zuhause in Güntersleben, die eigenen Weinberge hinauf.

„Auf geht’s Alfred, auf geht’s. Die Uhr tickt“, animiert Kilian seinen Begleiter. Unter sechs Stunden wollen sie am Ende bleiben, das ist das Ziel. Wenig später erreicht das Trio "Loch Ness", den legendären Schlammsee, das Hindernis aller Hindernisse. 40 Meter durch das eiskalte Wasser der Lauer, wo man unter Kanus durchtauchen muss. Von allen Seiten Stöhnen, Prusten, Schreie des Leidens. Mit bibbernden Zähnen erreicht Kilian das andere Ufer, wo zahlreiche Läufer bereits von Sanitätern behandelt werden.

Der Akku ist bei den meisten Teilnehmern bereits im roten Bereich, als das letzte große Kriechhindernis bevor steht. Gut 50 Meter müssen robbend unter einem geladenen Elektrozaun zurückgelegt werden. Keiner hat es dabei so schwer wie Kilian. Der Prothesenträger kann nicht auf dem Bauch robben, muss sich seitwärts mit purer Muskelkraft den Rand entlangziehen. Bergauf.
Über Feldwege und Wiesen wankt das Trio dem Ziel entgegen. Der letzte Berg, "Killing Hill", mit 45 Grad Steigung, verlangt ihnen noch einmal alles ab. Dann winkt endlich das Ziel. Auf der finalen Runde durchs Stadion wird Kilian frenetisch empfangen. Der letzte Blick auf die Stoppuhr verrät: 5 Stunden, 49 Minuten. Michael Kilian hat es wieder einmal geschafft. Den Ritt durch die Hölle Münnerstadts. Das Unglück vom 6. Juni 2003 wieder ein Stück weiter hinter sich zu lassen. 































Die Reportage im RUNNING-Magazin.