Wie kein anderes Land vereint Indiens Gesellschaft
Gegensätze
Bangalore. Man mag es beim Anblick des täglichen Wahnsinns und Chaos
auf Indiens Straßen kaum glauben: Beim Thema Bürokratie nehmen es indische
Ordnungshüter noch viel penibler als ihre deutschen Pendants. Will man sich in
Indien eine Simkarte kaufen, muss man erst Berge an Dokumenten ausfüllen, ehe
man ganz akkurat auf dem benötigten Passbild von sich unterschreiben muss.
Ähnlich gestaltet sich der Fahrkartenkauf. Endlich am Schalter nach einer
Stunde zähem Anstehen, bekommt man erstmal ein Dokument überreicht, in dem man
Passnummer, Adresse und sogar das übernächste Reiseziel angeben muss. Das
dauert, das nervt, das kostet Reisezeit. Wenn Du was in Indien brauchst, dann
ist es: Geduld.
Ordnungsfanatiker versus Müllanhäufer
Nun ja. Indien ist eben das Land der ganz großen Gegensätze
und Widersprüche. In allen Bereichen des Alltags. Viele Inder lieben
Sauberkeit, Organisation und Ordnung. Sie duschen oft mehrmals am Tag, packen
in den Zügen ihr akkurat verpacktes Abendessen aus.
Gleichzeitig verkommen
Indiens Straßen in vielen Teilen des Landes zu großen Müllbergen. Ich bezweifle
stark, ob es in Hindi überhaupt ein Wort für Umweltbewusstsein gibt. Coladosen,
Essensreste? Aus dem Zugfenster damit! Plastiktüten? Kann man nie genug von
haben!
Tabuthema Sex, Händchenhalten als Revolution
Bei den Themen Sex und Liebe sind Inder aus moderner
westeuropäischer Perspektive schrecklich verklemmt. Über Geschlechtsverkehr zu
reden, gilt als verpönt. Sex wird offiziell (!) als ein Mittel zum Zweck
(Familiengründung) angesehen. Nicht mehr und nicht weniger.
Was mir sofort
aufgefallen ist: Paare tauschen auf Indiens Straßen keinerlei
Liebesbekenntnisse aus. Kein Küsschen. Kein Kuscheln. Nicht einmal ein bisschen
Händchenhalten. Lediglich auf Mumbais Marine Drive habe ich einige wagemutige,
junge Paare gesehen, die beim Sonnenuntergang ein bisschen Liebe gelebt haben.
Ein schüchterner Kuss auf die Wange ist auf Indiens Straßen schon revolutionär.
Halbnackte Sportreporterinnen, Vergewaltigungen
Auf der anderen Seite wird mit sexuellen Reizen und
Stereotypen in den Medien zum Teil geradezu gespielt. Bei einem Cricketmatch
zur Primetime, das sogar Mumbais Straßen für zwei Stunden komplett leerfegte,
stand zuletzt eine Blondine im Scheinwerferlicht, die in ihrem Outfit auf den
Showbühnen der Reeperbahn nicht auffallen würde.
Viele westliche Frauen, die ich in meinen ersten 14 Tagen in
Hostels getroffen habe, berichteten von unangenehmen Situationen im Alltag mit
indischen Männern. Dreiste Griffe an den Hintern beim dafür arrangierten Fotoposieren
mit den Frauen. Und vor allem: Blicke, krasses Anstarren und Gaffen auf der
Straße. Natürlich ticken verhältnismäßig nur wenige Inder so. Aber dieses
Verhalten ist offenbar doch in gewissen Teilen der Gesellschaft verbreitet. Und
es führt dazu, dass fast alle Frauen aus Europa Nachtfahrten in Zügen ohne
Begleitung eines Mannes meiden.
Die fürchterlichen Berichte über Massenvergewaltigungen von
Touristinnen tun ihr Übriges. Sie prägen das Image Indiens mittlerweile leider
schon rund um den Globus. Das ist schade. Denn Indien ist ein wunderbares Land
mit vielen unfassbar gastfreundlichen Menschen. Darunter nicht wenige Männer.
Ein seltener Anblick in Indien: Ein junges Paar lebt am Marine Drive in Mumbai in der Oeffentlichkeit seine Liebe aus.